Lieferkettengesetz – warum sollte ein Unternehmen ethisch handeln?

15. Feb 2020 | 0 Kommentare

Die Bundesregierung beabsichtigt, dass Unternehmen nun, nach erfolglosen Jahren der freiwilligen Selbstverpflichtung, Menschenrechts- und Sozialstandards in den Lieferketten „verbindlicher als bisher“ durchsetzen und kontrollieren sollen.

Die Bundesregierung sieht die Unternehmen diesbezüglich in einer Verantwortung und in einer moralischen Pflicht. Ebenso sieht sie sich in der Verantwortung gegenüber den Unternehmen, die verantwortlich und fair handeln und dadurch eventuell Kosten- und Wettbewerbsnachteile haben. Die Unternehmensverbände hingegen warnen bei der Abfassung eines Lieferkettengesetzes vor „Schnellschüssen ohne empirische Grundlage“. Die NGO dagegen unterstützen die Absicht der Bundesregierung.

Wie ließe sich eine moralische Verpflichtung von Unternehmen zur Einhaltung menschenrechtlicher Standards begründen, und wie könnte ethisches Handeln in der Lieferkette aussehen?

Ethik beantwortet Fragen des Menschen nach dem Guten

Die Ethik als Teil der praktischen Philosophie beschäftigt sich mit der Frage nach dem guten und richtigen Handeln. Ausgangspunkt der Frage nach dem „Guten“ sind Gewohnheiten, Moral – und Wertvorstellungen, nach denen Menschen und Menschengruppen handeln. Diese werden auf die Frage hin reflektiert, ob sie, diese Handlungen, Sitten, etc. „gut“ sind. Schon vor der Antike, die als Geburtsstunde und -ort der Philosophie gilt, haben sich Menschen bspw. im Rahmen von Schöpfungsgeschichten (die Bibel, das Gilgameschepos, etc.) mit Fragen nach dem guten und dem richtigen Handeln beschäftigt. Die Frage nach dem „Guten“ ist sozusagen in der Natur des Menschen angelegt.

Dazu gab und gibt es höchst unterschiedliche Antworten. Was alle Antwortversuche gemeinsam haben, sind bestimmte Werte, Prinzipien oder Verfahren, die als „gut“ definiert werden, weil sie stets über die Interessen und Bedürfnisse des einzelnen Menschen oder einer bestimmten, gleichartig interessierten Menschengruppe hinausgehen. Wesentlich für einen „guten Wert“ oder ein „gutes Prinzip“ ist es, prinzipiell „das Gute“ für alle Menschen erreichen zu wollen. In allen wesentlichen ethischen Theorien wird von einer Gleichberechtigung aller Menschen in Bezug auf einen „Anspruch auf das Gute“ ausgegangen. Das Gute hat immer das Gemeinwohl, i.S. einer tatsächlichen Verbesserung der Situation aller Menschen zum Ziel. Eine Moral eines „Recht des Stärkeren“ wäre ethisch jedenfalls nicht zu legitimieren.

Das Gute – Die Menschenwürde als oberste Richtschnur ethischen Handelns

Was ist nun das Gute? Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der UN als gemeinsamer sittlicher Nenner der Völkergemeinschaft basiert maßgeblich auf dem „moralischen Prinzip der Menschenwürde“, die jeder Mensch besitzt, weil er ein Mensch ist. Immanuel Kant hat das Prinzip der Menschenwürde theoretisch aus der „Selbstzweckhaftigkeit“ des Menschen hergeleitet, die es verbietet, den Menschen überwiegend als Mittel für einen anderen Zweck zu „benutzen“. Aus der Menschenwürde abgeleitet, werden jedem Menschen bestimmte legitime Ansprüche zugesprochen. Hierzu gehören wesentlich die Freiheit, die Gerechtigkeit und gute Lebensbedingungen. Auch wenn es sehr unterschiedliche Vorstellungen über „gute Lebensbedingungen“, „Gerechtigkeit“ etc. gibt, so gelten diese Ansprüche prinzipiell und universell. Sie sind sowohl in moralischer Hinsicht als auch teilweise rechtlich verpflichtend.

Im Konfliktfall, z. B. bei knappen Ressourcen oder bei unterschiedlichen Interessen, gilt es einen Ausgleich, einen „Verteilungsmodus“ oder ein „Gestaltungsprinzip“ zu finden, bei dem möglichst jeder Einzelne, wenn auch u.U. in unterschiedlichen Ausmaß profitieren sollte. Falls dennoch ein „Verlust“ oder ein „Schaden“ für Einzelne entsteht, kann dies nur durch ein übergeordnetes und höherwertiges Prinzip ethisch gerechtfertigt werden (z. B. durch das Gerechtigkeitsprinzip bei der Erhebung von Steuern zur Finanzierung von sozialen Ausgleichsmaßnahmen). Das „Gute“ ist also durch eine Höherwertigkeit gegenüber Einzel- oder Gruppeninteresse und normativ auch durch den Umstand definiert, dass dem Starken u.U. mehr Belastungen/Verluste zugemutet werden kann als dem Schwachen, weil es dem Gemeinwohl, d. h. dem Glück aller dient.

 

Unternehmen haben eine Verantwortung gegenüber ihren Stakeholdern

Die Frage nach dem richtigen und guten Handeln war und ist nicht nur eine Frage von Denkern, sondern, meist intuitiv, von jedem Menschen. Der Mensch ist ein moralisches Subjekt, das Verantwortung für sein Handeln übernehmen kann, weil sein Handeln eine Zielrichtung hat und ihm die Folgen und Adressaten seiner Handlungen bewusst sein können. Verantwortung übernehmen hieße dann, dass der Mensch sein Handeln gegenüber einer „moralischen Norm“, hier dem Guten, rechtfertigt.

Unternehmen als „Gesamtheit moralischer Einzelsubjekte“ sind Orte der Moral und meines Erachtens auch moralische Subjekte, weil sie ebenfalls alle wesentlichen Merkmale einer Verantwortungszuschreibung (v.a. ein gezielter Wille und eine reflektierte Bewusstheit bzgl. der Handlungsfolgen) aufweisen. Unternehmen handeln jenseits des rein ökonomischen Unternehmenszwecks immer auch moralisch und können für die Folgen dieser Handlungen auch zur „moralischen Rechenschaft“ gezogen, also verantwortlich gemacht werden.

Sie müssen auch im „Raum der Legalität“ für ihr Handeln Rede und Antwort stehen, sie müssen es legitimieren.

Ein Unternehmen hat als moralisch handelndes Subjekt mindestens insofern eine Verantwortung gegenüber seinen Stakeholdern, als es aufgrund gleichberechtigter und legitimer Eigeninteressen seiner Stakeholder die Durchsetzung eigener Interessen u.U. auch freiwillig beschränken muss. Solche legitimen Eigeninteressen sind z. B. der Anspruch auf faire Vertragsverhältnisse und eine faire Praxis innerhalb dieser Vertragsverhältnisse. Fairness bedeutet im Rahmen der Lieferkette hauptsächlich, die faktische Marktmacht gegenüber dem Lieferanten nicht auszunutzen, relativ gleiche Maßstäbe wie im Inland anzulegen und Risiken, Verantwortung und Belastungen (Gesundheitsrisiken, ökologische Kosten, etc.) nicht zu externalisieren. Immer mehr Unternehmen binden sich freiwillig an dieses Gebot der Fairness.

Der faire Handel in Deutschland. Gundsätze. Wirkung. Akteure.

Unternehmensverantwortung und ethisches Verhalten in der Lieferkette

 

Was heißt es nun Verantwortung in der Lieferkette zu übernehmen?

Zunächst einmal anzuerkennen, dass ein Unternehmen mit seiner Marktmacht und seinen strategischen Entscheidungen zur Preispolitik, zur Standortwahl, zur Produktpolitik, etc., die Arbeits- und Lebensbedingungen (Lohnhöhe, Arbeits- und Gesundheitsschutz, etc.) der Beschäftigten bei den Zulieferern erheblich beeinflusst.

Die ethisch relevante Frage wäre nun, inwieweit ein Unternehmen seinen faktischen Einfluss auf den wirtschaftlichen Spielraum des Zulieferers nutzt, um „unzumutbare“ Bedingungen für die Beschäftigten beim Zulieferer zu verbessern, auch dann, wenn damit die Gewinnmarge sinken würde. Ein Unternehmen würde dies versuchen, wenn es nicht nur die legitimen Interessen des eigenen Unternehmens, sondern auch die des Lieferanten als gleichberechtigt anerkennt.

Gleichzeitig besteht natürlich auch eine Verantwortung des Unternehmens gegenüber seinen anderen Stakeholdern, so insbesondere gegenüber den eigenen Beschäftigten, dem Eigentümer und seinen Kunden, denn es wäre ethisch jedenfalls auch nicht vertretbar, wenn das eigene Unternehmen durch eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in den Zulieferfirmen am Markt nicht überleben könnte. Diese Einschränkung würde aus ethischen Gründen aber für den Fall nicht gelten, wenn das Unternehmen nur aufgrund der niedrigen Kosten und der damit verbundenen unzumutbaren Arbeitsbedingungen beim Lieferanten am Markt bestehen könnte. In diesem Fall würde das Unternehmen auf Kosten des Lebens anderer überleben. Dies wäre ein unethisches Geschäftsmodell.

Ethische Abwägung in der Lieferkette

Ein ethisches Verhalten würde nun zunächst einmal darin bestehen, die Interessen der verschiedenen Stakeholder, also in diesem Fall zunächst einmal die des Lieferanten mit denen der eigenen Beschäftigten und des Eigentümers abzuwägen.

Die damit verbundenen Fragen würden nun lauten:

    • Wie sind die Arbeitsbedingungen beim Zulieferer im Hinblick auf menschenwürdige Standards zu bewerten?
    • Welcher Maßstab kann dabei zugrunde gelegt werden?
    • Kann das Unternehmen den Zulieferer verpflichten, bestimmte Arbeits- und Gesundheitsschutzstandards einzuhalten?
    • Kann es ihn verpflichten faire Löhne zu zahlen? Was wäre ein fairer Lohn?
    • Wie kann ein Unternehmen die Einhaltung der diesbezüglichen Vereinbarungen kontrollieren?
    • Wie hoch wären die damit verbundenen Zusatzkosten für den Lieferanten?
    • Würden diese Zusatzkosten die Produktion bei den Lieferern unwirtschaftlich machen?
    • Welche Möglichkeiten hat das Unternehmen bei höheren Zusatzkosten am Markt einen höheren Preis zu erzielen?
    • Welche Folgen hätte ein Renditeverlust für das Unternehmen?

 

Verantwortung durch Lieferantenentwicklung

Im Rahmen von Lieferantenentwicklungen und Audits kann ein Unternehmen jeden Zulieferer jederzeit zur Einhaltung bestimmter Standards, auch Lohnstandards, insoweit „zwingen“, als bestimmte Mindeststandards eingehalten werden (Rahmensetzung). Die Ausdifferenzierung der Standards nach oben bleibt natürlich im Gestaltungsbereichs des Zulieferers. So ist die Festlegung des Lohns natürlich in erster Linie Angelegenheit des Lieferanten . Jedoch kann ein Unternehmen vom Lieferanten beispielsweise fordern, dass ein Erwachsener mit einem Ganztagesjob sich und seine Familie unabhängig von seiner Qualifikation, Verantwortung und Tätigkeit mindestens existenzsichernd versorgen kann (ausreichend Essen, Wohnraum, Kleidung und Bildung für die Kinder als weltweites Sozialrecht, gemäß Art. 7 des UN-Sozialpakts) und dass weitere Kriterien für eine faire Lohnpolitik eingehalten werden. Grundlage zur Festsetzung eines existenzsichernden Lohns wären wissenschaftlich anerkannte Standards zur Bestimmung des Existenzminimums, ähnlich dem in Deutschland gängigen statischen Verfahren zur Bestimmung des Existenzminimums. Das Unternehmen sollte deshalb bzgl. seiner Preisbildung den Kostenrahmen des Zulieferers kennen. Diese Mindeststandards müssten von unabhängigen Institutionen (z. B. ILO, Fairtrade, Fair Wear, „Welt-TÜV“?) jederzeit überprüft werden können. Hierfür würde das Unternehmen auch einen angemessen höheren Preis bezahlen.

 

Folge „Preissteigerungen“

Die damit verbundenen Zusatzkosten müsste das Unternehmen dann entweder über den Preis an den Kunden weitergeben oder es müsste, falls dies am Markt nicht durchsetzbar ist, einen Renditeverzicht akzeptieren. Eine Preiserhöhung wäre ethisch völlig unproblematisch, sofern es sich bei dem Produkt nicht um ein „Überlebensmittel“ handelt, das durch die Preiserhöhung für eine bestimmte Gruppe von Menschen nicht mehr erschwinglich wäre und sie dadurch in ihrer Existenz bedroht würden.

Dies ist de facto im Bereich der meisten kritischen Lieferketten (einige Lebensmittel, Kleidung, Bodenschätze, Billiglohnfertigung vor allem in der Automotive und Kommunikationsindustrie) nicht der Fall ist. Lediglich im Pharmabereich könnte es theoretisch dazu kommen, dass lebenswichtige Medikamente in bestimmten Ländern aufgrund von sozial oder ökologisch bedingten Preissteigerungen (die meisten Medikamente werden mittlerweile überwiegend in China und Indien produziert) sowie hoher Entwicklungskosten nicht mehr bezahlt werden könnten. Hier würde es zu einem schwerwiegenden ethischen Konflikt kommen, der auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen werden würde. Hier müsste der Staat oder die Staatengemeinschaft zusammen mit den Pharmaherstellern einen Ausgleich finden, wie das bereits in Einzelfällen schon der Fall ist.

 

Folge „Renditeverzicht“

Demgegenüber könnte eine Preiserhöhung aufgrund ethisch angezeigter Sozialstandards dem Unternehmen nicht nur ein Reputationsgewinn und trotz erhöhtem Preis auch Marktzuwächse bescheren (siehe die starken Marktzuwächse von fair-Produkte, von Ritter Sport, Taifun, Vaude, etc.), sondern auch die Bindung von Kunden und Beschäftigten an das Unternehmen stärken.

Ein Renditeverzicht oder eine Preiserhöhung wären ethisch dann nicht vertretbar, wenn es die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens auf längere Sicht schädigen würde und dadurch das Überleben des Betriebs gefährdet wäre oder in beträchtlichen Umfang Arbeitsplätze verloren gingen. Andererseits wäre es ethisch nicht vertretbar, wenn das Überleben eines Unternehmens von so niedrigen Kosten (Preisen) abhängig wäre, dass dadurch Menschen in den Zulieferbetrieben selbst durch einen Ganztagesjob ihre Existenz und ihre Gesundheit nicht sichern könnten.

Ein Renditeverzicht wäre dem gegenüber ethisch so lange angezeigt, bis die Beschäftigten in den Zulieferbetrieben eine Sozialposition hätten, bei der die Existenzsicherung und ein Basisstandard „Entwicklungsbedarf“ für eine Familie zzgl. einer leistungsabhängigen Prämie des Beschäftigten gewährleistet wären. Hier wären die Dimensionen der Chancen- und der Leistungsgerechtigkeit des „Metawertes der Gerechtigkeit“ erfüllt. Die Höhe der Existenzsicherung und des Basisstandards „Entwicklungsbedarf“ müssten von unabhängigen Wissenschaftlern festgelegt werden. Solange Unternehmen von Produkten aus Ländern, in denen weltweit geltende soziale Mindeststandards nicht gewährleistet werden, profitieren, solange haben sie eine moralische Mitverantwortung diesen Missstand mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu beheben. In reicheren, industriell gut entwickelten Ländern hätten sie diese Verantwortung nicht.

Fazit

Aufgrund ihrer Verantwortung als moralisches Subjekt in Wirtschaft und Gesellschaft müssten sich Unternehmen einem verbindlichen und kontrollierbaren Rahmenwerk zur Durchsetzung materieller, Sozial- und Gesundheitsstandards in kritischen Zulieferketten nicht nur beugen, sondern sie müssten es als ethisch handelnder Akteur geradezu einfordern.

Das Kostenargument ist so lange ethisch nicht relevant bis die Beschäftigten beim Zulieferbetrieb eine menschenwürdige Sozialposition haben. Erst ab diesem Niveau wäre das Kostenargument in Bezug auf das Eigeninteresse des Unternehmens relevant. Erst hier wären dann eigene Rendite- und Entwicklungsziele in den Verhandlungen mit dem Zulieferer zu berücksichtigen und abzuwägen, zumal dann, wenn das Unternehmen mit dem Zulieferer eine längerfristige Entwicklungspartnerschaft anstrebt. Alles Andere wäre ein Profit auf Kosten der Not des anderen. Das wäre unethisch. Zudem würden Unternehmen durch einen ethisch begründeten Renditeverzicht auf der anderen Seite einen Reputationsgewinn erzielen, der ihnen wiederum neue Chancen auf dem Markt eröffnen würde, mit dem sie einer niedrigpreisigen internationalen Konkurrenz etwas entgegensetzen könnten.

Und ganz zum Schluss: ein Unternehmen sollte nicht nur in der kritischen Lieferkette ethisch handeln, weil es auch nützlich sein kann, sondern in allererster Linie, weil es richtig und gut ist.

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