Homeoffice – süßes Gift oder Heilsbringer?

19. Mai 2020 | 0 Kommentare

Laut einer repräsentativen Bitkom-Umfrage arbeiten in der aktuellen Corona-Situation knapp die Hälfte aller Berufstätigen zumindest teilweise im Homeoffice. Für 18 % der Beschäftigten ist das eine ganz neue Erfahrung, für 31 % der Beschäftigten wurden bereits bestehende Homeoffice-Regelungen ausgeweitet. Bitkom sieht durch die aktuelle Coronakrise die Unternehmen gefordert, sofern dies möglich ist, mehr in digitales und flexibles Arbeiten zu investieren und das Arbeitsrecht diesbezüglich zu modernisieren.
Demgegenüber geht die aktuell noch laufende, ebenfalls repräsentative Coronastudie der Universität Mannheim in einem ersten Zwischenergebnis von knapp über 21 % Beschäftigten aus, die im Homeoffice arbeiten. Dies wäre im Vgl. zu der repräsentativen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) aus dem Jahr 2017 sogar eine geringfügige Abnahme, da hier 22 % Beschäftigte gezählt wurden, die in 2017 das Homeoffice ganz überwiegend teil- und stundenweise genutzt haben. Allerdings wurden hier nur Beschäftigte aus Betrieben über 50 MA befragt. Eine Umfrage des internationalen Marketing- und Forschungsinstituts YouGov von Ende März 2020 bestätigt die zahlenmäßige Größenordnung der Mannheimer Studie. Insgesamt ist eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Bitkom-Umfrage und den Umfragen der eher neutraleren Institute festzustellen. Danach ist auch in der Coronakrise der Anstieg der Homeofficenutzer nicht in dem Maße angestiegen, wie man dies aufgrund der coronabedingten Umstellungen in den Betrieben vermutet hätte. Sowohl die Beschäftigten als auch die Betriebe sind diesbezüglich offensichtlich nach wie vor zurückhaltend.  

Homeoffice als Standard einer schönen neuen Arbeitswelt?

Homeoffice könnte in der Zeit nach Corona dennoch zum Standard einer neuen Arbeitswelt werden, auch vor dem Hintergrund der unabweisbaren ökologischen Vorteile (weniger arbeitsbedingte Mobilität) und zunehmender Forderungen nach flexibleren Arbeitsformen v.a. aus der jüngeren Generation. Auch die SPD fordert ein Recht auf Homeoffice, weil sie davon ausgeht, dass das Homeoffice eine gute Möglichkeit sei, eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu gewährleisten. Ebenso passt die Forderung nach einer Ausweitung von Homeoffice wunderbar in die Erzählung, dass Deutschland bzgl. Digitalisierung rückständig sei und hier vielmehr investiert werden müsse. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob diese Forderung auch inhaltlich berechtigt ist oder ob sie einfach nur gut passt, denn nicht alles was passt, ist auch richtig!

Im Zentrum einer ethischen Sichtweise steht die Frage, welche Auswirkungen eine Ausweitung von Homeoffice-Modellen auf die Beschäftigten und auf die Unternehmen haben, inwieweit es hier unterschiedliche und gleichgerichtete Interessen gibt und wie eventuelle Belastungen und Nachteile ausbalanciert oder vermieden werden können. Ebenso gilt es, die Vor- und Nachteile in der aktuellen Coronazeit und der Zeit danach genauer zu betrachten. Beiden Zeiträumen ist gemeinsam, dass das „Office“ ins „Home“ gelegt wird, dass das „Home“ als ursprünglicher „Raum des Privaten“ vom „Raum des Beruflichen“ eingenommen und kolonialisiert wird. Die räumliche Trennung von Arbeit und Leben, wie sie in der Metapher der „Work-Life-Balance“ vorausgesetzt wird, ist aufgehoben. Berufliches spielt sich im Raum des Privaten ab. Die Rahmenbedingungen des Homeoffice in der aktuellen Coronazeit dürften sich jedoch erheblich von den Bedingungen der Zeit danach und der Zeit davor unterscheiden.

Die Bedeutung von Räumen für das Verhalten

Räume werden geschaffen, gewählt, gestaltet oder gewechselt, um bestimmte Tätigkeiten mindestens angemessen ausführen kann: So spielt man in der Regel nicht im Wohnzimmer Fußball, sondern auf dem Bolzplatz. Für unterschiedliche Tätigkeit gibt es unterschiedliche Räume. Räume haben eine physisch-gegenständliche, eine soziale und eine sinnlich-kognitive Dimension. Diese bilden den Rahmen (Frame), in dem die Tätigkeit ausgeführt wird. Der Raum enthält eine Unmenge von Informationen und Reizen, die sich über die Sinnesorgane mit den Emotionen und dem Denken verbinden und so den Vollzug der Tätigkeit maßgeblich beeinflussen. Raum und Verhalten koppeln sich. Im Handeln entsteht eine permanente Interaktion zwischen Emotionen, Denken und dem Handlungsraum, den Außenverhältnissen. Das Büro oder die Produktionshalle schaffen durch die Anwesenheit von Kollegen:innen, durch die Beschaffenheit der Räume, durch Gerüche, Geräusche, Farben und durch eine bestimmte Atmosphäre ein Grundgefühl und eine Einstellung des Beschäftigten zu seiner Arbeit und bestimmen dadurch die Ausführung seiner Tätigkeit ganz erheblich. Das Gleiche gilt für die Gestaltung des Alltags und der Freizeit in der Familie, im Verein oder mit Freunden. Die Räume, die Tätigkeiten, die Rollen und die Atmosphären sind unterschiedlich, deshalb ist auch das Verhalten unterschiedlich. Der Mensch ist im Normalfall ein sozial intelligentes Wesen, der sich unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen gut anpassen und sich darin ausdrücken kann. Dies kann er nicht nur, sondern er macht es auch gerne, weil er verschiedene Bedürfnisse hat, über variable Ausdrucksmöglichkeiten und unterschiedliche Fähigkeiten verfügt, die einen geeigneten „Raum zum Ausleben“ brauchen. Insofern kommen verschiedene Räume mit unterschiedlichen Funktionen, Logiken, Bedingungen und Ästhetiken dem Menschen auch entgegen. Das gilt insbesondere für die beiden wesentlichen Existenzräume der beruflichen Tätigkeit und des privaten Lebens. Unterschiedliche Räume sind auch Ausdruck eines menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsprinzips, wonach sich Gesellschaft und Individuen zunehmend differenziert haben. Die Familie, die Sippe, die Dorfgemeinschaft als gesellschaftliche Totalität, in der sich alles abgespielt hat und alles geregelt wurde, gibt es in modernen Gesellschaften nicht mehr. Die moderne und fragmentierte Gesellschaft schafft nicht nur Schnittstellen und Grenzen, sondern auch Entlastung und Balance.

Die Bedeutung von Grenzen für Menschen

Ein weiterer Aspekt der Bedeutung von unterschiedlichen Räumen sind die Grenzen, die die Räume umgeben und voneinander trennen. Grenzen markieren Unterschiede zwischen dem Innen und dem Außen, dem einen und dem anderen, dem davor und danach. Durch Unterscheidungen wird die gegenständliche und die mentale Welt handhabbar gemacht. Erst dadurch wird der Mensch handlungsfähig: Dinge, Menschen, Handlungen, Bedürfnisse, Erlebnisse, Erfahrungen, etc. werden durch Unterscheidungen kategorisiert und eingeordnet, und bilden dadurch wiederum die Grundlage und einen Referenzrahmen für entsprechend sinnvolle Handlungen. Die Planung des Sommerurlaubs am Meer (Handlung) wäre deutlich erschwert, wenn man noch nie Urlaub am Meer (Referenzrahmen fehlt) oder nur positive Urlaube am Meer erlebt hätte (Referenzrahmen ist diffus). Am ehesten könnte man eine gute Sommerurlaubsentscheidung treffen, wenn man gute und schlechte Sommerurlaube am Meer erlebt hätte. Unterscheidungen helfen Komplexität und Unsicherheit zu reduzieren und dadurch handlungsfähig zu sein. Ohne Unterscheidungen könnte der Mensch nicht denken, denn das Denken beruht auf der Differenz. Jedes Kind lernt durch Unterscheidung und differenziert sich selbst und die Welt, die es umgibt. So entwickelt es sich zum Erwachsenen und hoffentlich bis ins hohe Alter immer weiter zu einem vielleicht weisen Menschen hin. Es gibt physikalische, soziale und normative Grenzen. Sie schaffen Orientierung im Kopf, im Handeln, im Alltag und in der Welt. Sie schaffen soziale Ordnungen, sie schützen die Räume durch Regeln nach innen und nach außen, sie schaffen soziale Zugehörigkeit und erleichtern dadurch das Leben. Durch Grenzen wissen wir, was wir wollen und was wir nicht wollen, was wir sollen und nicht sollen, ob etwas so oder anders zu bewerten ist, ob wir eine Grenze akzeptieren oder überschreiten wollen. Grenzen sind eine anthropologische Notwendigkeit: Ohne sie würde sich kein Mensch, keine Gesellschaft entwickeln können. Gleichwohl müssen und sollen Grenzen natürlich auch veränderbar sein. Dennoch bleibt sie bestehen, aber an einem anderen „Ort“. Im Zuge der Industrialisierung und der Modernisierung von Gesellschaften haben sich die sozialen Räume im weiter differenziert, so auch die der beruflichen Tätigkeit und die des Privaten. Bis Ende des vergangenen Jahrhunderts schien die Trennung von Arbeitsplatz und Familie und Privatheit sakrosankt zu sein. Erste Risse dieser Grenzziehungen gab es in den 90er Jahren durch die großen Tech-Firmen in den USA (Google, Microsoft, IBM, Yahoo, etc.), die mit dem Argument einer besseren Work-Life -Balance immer mehr Beschäftigten die Arbeit im Homeoffice ermöglichten. Mittlerweile sind einige dieser Firmen davon wieder abgerückt, aber immer mehr europäische Firmen bieten ihren Beschäftigten ein solches Modell an, weil diese es wünschen. Die aktuelle Coronakrise wird diese Tendenz möglicherweise verstärken. Doch was passiert, wenn die Grenzen verschwinden?

Wenn Grenzen verschwinden – Rollendiffusion

„Wenn die Schnittstellen zwischen Familie, Privatleben und Wirtschaft von allen erkannt werden, dann löst sich der heute oft noch vorhandene Widerspruch zwischen Erwerbs- und Privatzeit. Dann wächst auch die Einsicht, dass Home Office Lösungen nicht nur aus Umweltgründen und zur Entlastung der Infrastrukturen sinnvoll sind, sondern sehr wohl auch zur Förderung eines ausbalancierten Lebens aller Erwerbstätigen.“

So ein Zitat der Autorin in ihrem Fazit zu der Frage, wie Beruf und Familie ohne Widerspruch gestaltet werden können, verfasst in einem Whitepaper der Stiftung Schweiz (S.11). Grenzen werden hier als Schnittstellen bezeichnet, die nur erkannt werden müssen, damit ein ausbalanciertes Leben möglich ist. Aber was passiert, wenn das „Home“ zum „Office“ wird. Die berufliche Rolle wird ins „Home“, in den Raum der Privat-Rolle gelegt. Beide Räume und beiden Rollen sind in ihrem Rahmen und in Ihrer Funktionalität nicht nur sehr unterschiedlich, sondern in weiten Teilen diametral entgegengesetzt. Die berufliche Rolle ist durch Effizienz, Geschwindigkeit, Druck, Kontrolle, Disziplin, Zielorientierung, die private Rolle hingegen durch Erholung, durch sein-und-laufen-lassen, durch Beisammensein, Freizeit, Konsum, Müßiggang, Ablenkung, durch Zwecklosigkeit etc. geprägt. Entsprechend ist der Home-Raum gestaltet und assoziiert. Der Beschäftigte sieht sich in seiner beruflichen Rolle sozusagen in einem fremden Raum, in einem fremden „Körper“, der eher gegenteiliges Verhalten konditioniert. Es entsteht eine Rollendiffusion, in dem die Grenzen zwischen beruflicher Anforderung und psychischer sowie physischer Reproduktion verschwimmen. Der Beschäftigte sieht sich dadurch in einer Situation, ständig zwischen diesen, durch den Raum und die Rolle erzeugten gegensätzlichen Impulsen hin- und herzupendeln. Er kann sich nicht so ohne Weiteres auf seine berufliche Rolle fokussieren, weil er durch die Assoziationen des „Home“ abgelenkt ist. Um seiner beruflichen Rolle im Homeoffice angemessen nachzukommen, bleibt ihm nur die Möglichkeit, im „Home-Raum“ eine Grenze zu ziehen und sich dort einen neuen „Office-Raum“ zu erschaffen. Dieser neue Raum müsste zumindest gegenständlich, zeitlich und sozial überwiegend abgrenzbar sein. Entsprechende Tipps geben z. B. Arbeitspsychologen, wenn sie empfehlen, dass Routinen und bestimmte zeitliche Abläufe im Homeoffice aufgebaut oder vereinbart werden sollten, dass der Arbeitsraum vom übrigen „Home“ abzugrenzen ist und der Beschäftigte sich in der „normalen Office-Kleidung“ an den Schreibtisch setzen sollte.  

Wenn Grenzen verschwinden – Selbstausbeutung

Dies alles ist mit einem hohen Maß an Disziplin und Selbstorganisation verbunden, weil die Strukturierung durch Vorgesetzte, Kollegen und Office-Prozesse zu einem guten Teil wegfällt. Der Beschäftigte ist im Homeoffice nicht nur derjenige, der seine Aufgaben abarbeitet, sondern er ist gleichzeitig auch sein eigener Impulsgeber, sein Kontrolleur, sein Motivator und er muss den sozialen und fachlichen Austausch, der im Office automatisch entsteht, immer erst selbst organisieren. Er ist sich aufgrund der fehlenden Unmittelbarkeit von Vorgesetzten und Kollegen auch nie sicher, ob seine Arbeit ausreichend und gut ist. Er führt immer einen „Rucksack des Ungenügenden und des unterstellten Misstrauens“ mit sich. Wenn er im Homeoffice nicht erreichbar ist, ist es etwas anders, wie wenn er im Office nicht erreichbar wäre, denn im Office kann er ja nur arbeiten. Im Homeoffice könnte er sich einfach nur die Zeit vertreiben oder gar anderen Erwerbstätigkeiten nachgehen. Über dem Freiheitsgrad des Homeoffice hängt das Damoklesschwert des ständigen Rechtfertigungsdrucks, dass der Beschäftigte auch zu Hause die „volle Performance“ zeigt. Er steht dauerhaft in einer Bringschuld. Eine Studie der Universität Basel aus 2009 zeigt, dass das Arbeitsmodell Homeoffice nicht zum Missbrauch, sondern eher zur Selbstausbeutung tendiert, da der Beschäftigte i. d. R. intrinsisch stärker motiviert ist und die Arbeitsziele u.U. auch ambitionierter sind. Der Beschäftigte muss den fehlenden „Office-Raum“ als Strukturierungselement sinnlich-gegenständlich erschaffen und er muss ihn v.a. mental repräsentieren und im „Home“ aufrechterhalten. Das ist eine ganze Menge und das kostet Zeit, Kraft und eine Menge an „Regie- und Transaktionskosten“. Das Home hat seine Unschuld als zweckfreier Raum, in dem sich der Beschäftigte im Idealfall von den Mühen der Arbeit reproduziert und sich als Mensch weiterentwickelt, verloren. Das Home wird teilweise der Logik der Ökonomie unterworfen. Da reicht „bloßes Erkennen einer Schnittstelle“ nicht aus.  

Wenn Grenzen verschwinden – Zeitersparnis

Gleichzeitig eröffnet das Homeoffice dem Beschäftigten auch erhebliche Freiheitsgrade. Wie stark diese aber tatsächlich sind, hängt maßgeblich von der Qualität der (virtuellen) Führung, vom Aufgabenumfang und vom Grad der Fremdbestimmtheit seiner Tätigkeit ab: Tätigkeiten die eine hohe Außenkontaktdichte (Vertrieb) und umfangreiche Absprachenotwendigkeiten (Projektgeschäft) erfordern, sind trotz Homeoffice stark extern reglementiert, sodass sich die Freiheitsgrade an dieser Stelle relativeren. Unabhängig davon erfordert Homeoffice vom Beschäftigten immer ein hohes Maß an Selbstdisziplin und Selbstorganisationsfähigkeit. Was bleibt ist die Zeitersparnis durch den Wegfall des Arbeitsweges und die Flexibilisierung des Alltags, sofern die Tätigkeit das zulässt. Insgesamt hängt das Maß der Be- und Entlastung von Beschäftigten im Homeoffice v.a. von den tätigkeits- und führungsbezogenen als auch von den „infrastrukturellen“ Bedingungen ab, unter denen die Beschäftigten im Homeoffice arbeiten.  

Homeoffice in Coronazeiten

Aus der Not heraus und in Windeseile haben die Unternehmen ihre Arbeit umorganisiert. Sofern es zu keinen Umsatzeinbrüchen und Kurzarbeit kommt, laufen die Produktionsprozesse oft mehrschichtig weiter und viele Servicefunktionen gehen dauerhaft oder im Wochenwechsel ins Homeoffice, um die Abstandsregeln zu gewährleisten. Es liegt im Interesse der Unternehmen, Infektionen innerhalb des Betriebes und damit einen Produktionseinbruch zu vermeiden und dies liegt natürlich auch im (gesundheitlichen) Interesse des Beschäftigten. Die Bedingungen im Homeoffice sind für die Beschäftigten aktuell jedoch ungleich ungünstiger als in Vor-Corona-Zeiten. Das „Home“ ist für Familien jetzt zu einem sozial hoch verdichteten Raum geworden, in dem sich die bisher verteilten wesentlichen Lebensbereiche Arbeit, Schule und Freizeit konzentrieren: Die Eltern sollen nicht nur ihrer Arbeit nachgehen, sondern sie sind jetzt auch noch Lehrkraft und Freizeitgestalter. Was in normalen Zeiten andere Institutionen und gesellschaftliche Gruppen machen, müssen jetzt die Familien übernehmen. An gute Arbeitsbedingungen im Home ist hier nicht zu denken. Eine Trennung von „Home“ und „Office“ ist aktuell für die meisten Familien im Homeoffice nahezu unmöglich, zumal Betreuungsalternativen und „Ventile“ wg. eines umfassenden Kontaktverbots komplett weggebrochen sind. Auch wenn die Homeofficenutzer überwiegend einen höheren Bildungsgrad haben und man hier von einer guten Sozial- Fürsorgekompetenz ausgehen kann, ist für Beschäftigte mit Familien und v.a. auch für Alleinerziehende das Homeoffice aktuell ein psychisches Risiko. Eine weitere Risikogruppe sind die Alleinstehenden. Hier ist nicht die räumliche und vielleicht auch nicht die mentale Trennung von „Home“ und „Office“ das Problem, sondern das Fehlen der Kontakte und des Austausches mit den Kollegen. Je nach Persönlichkeit besteht auch für diese Beschäftigtengruppe ein psychisches Risiko. Für Beschäftigte, die in einer Partnerschaft ohne ständige häusliche Verantwortung, also in der Regel ohne Kinder leben, dürfte das Homeoffice hingegen eine „Wohltat“ sein, wenn die Bedingungen stimmen. Hier würden die Vorteile im Homeoffice wie
    • mehr Zeit durch Wegfall des Arbeitsweges,
    • Reduzierung von Störungen im Großraumbüro und Unterbrechungen von Kolleg:innen,
    • mehr Flexibilität bzgl. eigener und familiärer Bedürfnisse,
    • höhere Autonomie,
    • besserer Output durch stärkere Fokussierung,
voll zur Geltung kommen. Homeoffice in Coronazeiten bedeutet für Familien mit Kindern und pflegenden Angehörigen, für Alleinerziehende und teilweise auch für Alleinstehende ein beträchtliches psychisches Risiko. Leider nehmen Unternehmen bei der coronabedingten Umorganisation der Arbeit auf solche soziale Konstellationen oft nicht ausreichend Rücksicht.

Homeoffice nach Corona

Wenn man die o.g. Zahlen aus der Vor-Coronazeit und die aktuellen Erfahrungen vieler Homeofficenutzer zugrunde legt, könnte man davon ausgehen, dass es nach Corona zu keinem Homeoffice-Schub kommen wird. Bereits davor gab es sowohl bei den Beschäftigten als auch bei den Unternehmen mehrheitlich eine Skepsis. Die sehr umfassende und detaillierte IAB-Studie zeigt, dass eine deutlich höhere Anzahl von Beschäftigten und Unternehmen die Schwierigkeiten und Risiken sieht, die mit Homeoffice verbunden sind. Dies betrifft v.a. die Geeignetheit der Tätigkeit, das Führungs- und Kooperationsthema und die von allen Akteuren gewünschte und gelingende Trennung von Beruf und Familie. Sie zeigt aber auch die positiven Wirkungen, die aus Sicht der Beschäftigten und Unternehmen mit einer Flexibilisierung der Arbeit auf die Arbeitgeberattraktivität verbunden ist. Diesen Befund bestätigen auch zahlreiche Erfahrungsberichte und Expertenmeinungen. Dennoch gibt es eine nennenswert große Gruppe von Beschäftigten, die das Homeoffice explizit zusätzlich möchte. Laut der IAB-Studie aus 2017 waren das ca. 12 % der Befragten, die bis dahin noch keine entsprechende Möglichkeit hatten. Laut einer von der FAZ am 21.4.2020 veröffentlichten repräsentativen Befragung der Mailanbieter web.de und gmx.de würden sich 29 % aller Beschäftigten auch nach Coronakrise eine Homeoffice-Lösung wünschen. Insgesamt sind die eher skeptischen Sichtweisen von Unternehmen und Beschäftigten sehr ähnlich. Die Aufwände für eine gute virtuelle Führung und Kooperation sind deutlich höher als im Office und die Gefahr, dass der Beschäftigte im Homeoffice psychisch aus dem Ruder läuft, ist auch für das Unternehmen ein Risiko. Vermutlich würden die Unternehmen aber mehr Homeoffice ermöglichen, wenn es die Tätigkeit zuließe. Die Technik und die Tools dafür stehen jedenfalls zur Verfügung. Für die Unternehmen könnte neben der Arbeitsgeberattraktivität zusätzlich auch noch eine höhere Erreichbarkeit und Ansprechbarkeit der Beschäftigten und eventuell auch eine bessere Raumausnutzung von Vorteil sein. Das Homeoffice ist im Gegensatz zum Unternehmen auf den ersten Blick v.a. für den Beschäftigten von Vorteil. Mehr Flexibilisierung, mehr Zeitersparnis, mehr Autonomie und Störungsfreiheit sind die Verlockungen für die Beschäftigten. Der Preis dieses „süßen Giftes“ sind Selbstdisziplinierung, ein dauerhafter „Rechtfertigungsbegleiter“ und gefühlte berufliche Dauerpräsenz. Die Kosten für diesen Verzicht auf einen „zweck- und leistungsfreien Raum“ sieht der Beschäftigte u.U. erst, wenn’s zu spät ist.

Fazit

Wie bei so vielen Dingen hängt es von der Dosierung ab, ob etwas giftig oder heilsam ist. So ist das auch beim Homeoffice. Vorteile und Risiken bestehen v.a. für die Beschäftigten, nicht nur in der aktuellen Situation, sondern auch darüber hinaus. Homeoffice kann für den Beschäftigten gut und sinnvoll sein, wenn die Randbedingungen stimmen. Eine wichtige Randbedingung ist, dass Homeoffice nicht dauerhaft, sondern zeitlich begrenzt gewährt wird (Forschungen sprechen hier von stundenweise bis zu max. 2 Tagen pro Woche). Dies reduziert das Erschöpfungs- und Selbstausbeutungsrisiko und wird zudem von den Beschäftigten überwiegend so gewünscht, um den Kontakt zum Unternehmen und den Kolleg:innen nicht zu verlieren. Ebenso ist zu vermuten, dass bei einer direkten und analogen Kommunikation die Arbeitsergebnisse besser sind, als dies bei einer virtuellen Kommunikation und Kooperation möglich ist, da viele wichtige Informationen, v.a. Kontext- und Beziehungsinformationen, digital überhaupt nicht oder nur verzerrt und verkürzt transportiert werden können. Im Gegensatz dazu hat Twitter ganz aktuell angekündigt, dass seine Beschäftigten jetzt „für immer“ ins Homeoffice dürften. Hier wird die Verantwortung für die Gesundheit und den Arbeitsschutz und die Fürsorgeverpflichtung des Arbeitgebers komplett auf den Beschäftigten übertragen – natürlich freiwillig. Das ist auch dann nicht akzeptabel, wenn hierfür Regeln definiert werden, die eine Überforderung vermeiden sollen. Der Raum ist einfach ein anderer und die (positive) soziale Kontrolle fällt weg. Arbeitsschutzregeln dürften im Homeoffice, im „fremden Raum“ kaum Wirkung erzielen. Hier ist der Beschäftigte mit sich und ggf. seiner Familie einem anderen Regelwerk unterworfen. Sachlich angezeigt ist Homeoffice eigentlich nur bei zeitlich befristeten Tätigkeiten, die längerfristiges Arbeiten bei hoher Konzentration erfordern. Darüber hinaus könnte es auch soziale oder Fürsorgegründe geben, in denen Homeoffice gewährt werden könnte, so etwa, wenn Beschäftigte ein krankes Kind versorgen müssten. Dies dürfte aber nur in einem zeitlichen überschaubaren Rahmen und mit einer reduzierten Stunden- und Aufgabenlast gewährt werden. Weitere Randbedingungen sind die Geeignetheit der Tätigkeit für das Homeoffice sowie die Bereitstellung der entsprechenden Infrastruktur durch das Unternehmen. Grundsätzlich hat das Unternehmen eine Mitverantwortung für eine angemessene Betrachtung der häuslichen Verhältnisse, in denen der Beschäftigte im Homeoffice arbeitet und für die Beurteilung der Fähigkeit des Beschäftigten zur Selbstorganisation, damit die nötige Abgrenzung von Arbeits- und Privatsphäre möglich ist. Wenn diese Randbedingungen erfüllt sind, haben sowohl das Unternehmen als auch die Beschäftigten Vorteile. Ansonsten kippt das System zuungunsten eines der Beteiligten. Auch hier ist es wie so oft eine Frage des Maßes. Darüber hinaus sollte jedes Unternehmen ihre Prozesse, Arbeitsorganisation und Raumbedingungen auch einmal auf systemische Störungsquellen überprüfen, damit der Beschäftigte auch im Office über einen längeren Zeitraum konzentriert arbeiten kann und nicht nur deshalb ins Homeoffice muss.